Warten auf den Prozessbeginn

Eine lange Zeit des Wartens begann. Als erster Termin wurde uns September genannt. Da aber ein schwerer Hurrikan über North Carolina hinwegfegte und dort sehr große Schäden anrichtete (das Auge des Hurrikan ging genau über Ocracoke nieder) musste der Termin verschoben werden.

Das war aber nicht das letzte Mal – der Termin wurde wieder auf November, dann auf Januar verschoben. Schließlich teilte uns die Staatsanwaltschaft mit, dass die Verhandlung am 9. Februar 2004 beginnen würde und ca. 3 Tage eingeplant werden müssten. Endlich hatte diese fürchterliche Warterei ein Ende.

Wir hatten das sehr große Glück, dass wir auf Einladung der US-Regierung an der Verhandlung teilnehmen konnten. Ich denke, dass wir das hauptsächlich den Staatsanwälten und einer speziellen Mitarbeiterin, deren Aufgabe es ist, sich um die Belange der Zeugen und Hinterbliebenen zu kümmern, zu verdanken haben. Sie haben große Anstrengungen unternommen, dass wir nach Amerika fliegen konnten, wussten, wie wichtig es für uns war, dem Menschen gegenüberzutreten, der das Leben unserer Tochter so leichtfertig und sinnlos aufs Spiel gesetzt hatte.

Wir kamen bereits einige Tage vor der Verhandlung in Amerika an, lernten die beiden Staatsanwälte, einige der Park-Ranger sowie Julianes Freunde kennen, die bei dem Unfall dabei waren.

Es waren sehr tränenreiche Begegnungen, hofften wir doch vor noch gar nicht so langer Zeit, dass wir gemeinsam mit Juliane ihre Freunde kennen lernen könnten.

Bisher wussten wir auch nicht, wer denn dieser Eddie W. war. Juliane hatte ihn nie in unseren Gesprächen erwähnt, der Name war uns vollkommen unbekannt. Wenn es eine Person gewesen wäre, die wirklich wichtig für sie war, die ihr etwas bedeutete, dann hätte sie mir bestimmt von ihm erzählt.

Wir wussten bisher nur, dass er aus einer sehr wohlhabenden Familie von Beaufort kommt und sein Großvater ein angesehener Anwalt dort ist. Aus diesem Grund waren wir sehr froh, dass die Verhandlung nicht in Beaufort und Umgebung, sondern in der Bundeshauptstadt in Raleigh vor dem Bundesgericht stattfand.

Der Prozess

Am Montagmorgen, dem 9. Februar 2004, begann die Verhandlung und zog sich, anders als ursprünglich geplant, bis Freitag, den 13. Februar 2004 hin.

Ein Übersetzer wurde uns zur Seite gestellt. Er durfte uns aber nur in den Pausen den Ablauf übersetzen. Es war wahnsinnig schwierig für uns, zum einen ging es sehr emotional zu und dann waren da noch die Sprachbarrieren und ein uns völlig fremdes Rechtssystem. Ich hatte zwar bei einem Crash-Kurs in Englisch meine Sprachkenntnisse auffrischen und erheblich erweitern können, aber das reichte bei Weitem nicht aus, um den manchmal sehr schnellen Wortgefechten zu folgen.

Ich möchte hier auch nur kurz auf den Prozess eingehen. Näheres darüber kann man in den übersetzten Zeitungsartikeln nachlesen.

Zuerst erfolgte die Auswahl der Geschworenen, gefolgt von den Eröffnungsplädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, dann wurden die Jugendlichen in den Zeugenstand gerufen, gefolgt von einigen Park-Rangern, Sachverständigen sowie der Pathologin.

Die Anklagevertretung wollte deutlich machen, dass der Unfall nur deshalb passierte, weil der Angeklagte betrunken und somit nicht in der Lage war, sein Fahrzeug unter Kontrolle zu haben und er rücksichtslos und leichtfertig das Leben seiner Passagiere aufs Spiel setzte.

Die Verteidigung hingegen wollte beweisen, dass allein die Topographie der Insel Schuld daran war, der Angeklagte nicht zu schnell fuhr und es jedem anderen auch passiert wäre, ihn also keine Schuld träfe. Zudem wurde versucht den Alkoholtest anzuzweifeln, was aber zum Glück nicht gelang.

Es ging oftmals sehr emotional zu, Tränen flossen bei Julianes Freunden, ihre Stimmen wurden brüchig, zumal sie manchmal von der Verteidigung recht schroff behandelt wurden.

Während der ganzen Zeit konnte ich den Angeklagten beobachten und hatte doch irgendwie gehofft, dass ich in seinem Gesicht oder an seinen Gesten irgendeine Reaktion (Bestürzung, Trauer, Schuldgefühl) hätte ablesen können. Aber nichts davon konnte ich erkennen. Entweder konnte er seine Gefühle sehr gut verbergen oder er hat ein Herz aus Stein.

Am Freitag, den 13. Februar – einen Tag nach Julianes 18. Geburtstag –verkündeten dann die Geschworenen am Nachmittag den Urteilsspruch.

Er wurde in allen Anklagepunkten für s c h u l d i g befunden

schuldig für : unbeabsichtigten Totschlag

schuldig für : rücksichtsloses Fahren

schuldig für : unsicheres Steuern eines Kraftfahrzeuges

schuldig für : Alkoholbesitz durch eine Person unter 21 Jahren

schuldig für : das Mitführen eines offenen Behälters mit Alkohol

schuldig für : Fahren unter Alkoholeinfluss

schuldig für : Verletzung der Anschnallpflicht

 

In den USA befinden allein die Geschworenen über die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten.

Sie treffen aber nur die Entscheidung  schuldig   oder nichtschuldig.

Die Höhe des Strafmaßes wird dann vom Richter festgelegt. Dies geschieht aber nicht wie in Deutschland am gleichen Tag. Der Richter hat noch einmal bis zu 90 Tagen Zeit das Strafmaß festzulegen.

Der Angeklagte durfte abermals nach Hause, obwohl er für schuldig befunden wurde.

Erst am 02. März wurde er auf Antrag der Staatsanwaltschaft inhaftiert und musste nun im Gefängnis auf sein Urteil warten.

Für uns hieß es also wieder abwarten. 15 bange Wochen, bis endlich am 28. Mai 2004 der Richter den Schuldspruch verkündete:

45 Monate Gefängnis

anschließend 8 Jahre Bewährung

muss die Krankenhauskosten des anderen Verletzten begleichen sowie unsere Beerdigungskosten und die Kosten für den Grabstein.

Fast 4 Jahre amerikanisches Gefängnis sind schon eine recht harte Strafe. Hoffentlich ist ihm das eine Lehre fürs Leben - auch wenn Juliane dadurch nicht wieder lebendig wird.

Es war wieder unglaublich schwer, aber ich bin froh, dass ich auch bei der Urteilsverkündung dabei sein konnte.

Der Angeklagte (es war für mich eine Genugtuung, ihn in Ketten zu sehen) konnte noch einmal das Wort an den Richter und an uns richten. Es sollte wohl eine Art Entschuldigung sein – ich empfand sie aber eher als Hohn.

Er sagte sinngemäß: Ich weiß, dass ich Alkoholiker bin und es mein ganzes Leben bleiben werde, ich entschuldige mich bei Julianes Familie und meiner Familie dafür und dass er nicht wollte, dass so etwas passiert.

Auch ich durfte, bevor der Richter das Urteil verkündete, ein Statement abhalten.

Ich hatte lange überlegt, ob ich es mache, aber da mir in Amerika alle zuredeten und meinten, ich würde es vielleicht eines Tages bereuen, wenn ich nicht sprechen würde, versuchte ich also mein Statement zu halten. Ich sagte es aber auf Deutsch und der Dolmetscher übersetzte dann für mich. Sehr weit bin ich allerdings nicht gekommen - es kamen sofort die Tränen und meine Stimme wollte auch nicht mehr. Da ich aber alles aufgeschrieben hatte, las es dann unser Übersetzer weiter vor.

Nur zum Schluss begann ich wieder zu reden. Ich hatte noch einige Worte an den Angeklagten, die ich ihm unbedingt selbst sagen wollte. Ihr könnt mir glauben, das war sehr, sehr schwer für mich - aber ich bin doch froh, dass ich es getan habe.

Hier mein Statement:

„Keine Worte können die Traurigkeit und Leere in den Herzen und im Leben von mir, meiner Familie und Julianes Freunden beschreiben.

Wir sind ebenso Opfer wie Juliane.

Jeder Tag ohne sie ist fast unerträglich. Sie war mein einziges Kind, das Kostbarste in meinem Leben. In ihr vereinigten sich all meine Hoffnungen, Wünsche und Träume.

Juliane wurde begraben und mit ihr auch all diese Hoffnungen. Ihr Tod hat eine große Leere in unserem Leben hinterlassen, die zu füllen niemand fähig sein wird.

Ich weiß, dass auch viele andere einen geliebten Menschen verloren haben, aber Juliane war mein Kind, mein Leben und der Schmerz ist einfach überwältigend.

Ich hatte eine sehr gute, enge Beziehung zu meiner Tochter. Ich habe nicht nur mein einziges Kind verloren, ich verlor auch eine sehr gute Freundin.

Ich glaube nicht, dass ich mich jemals von diesem unerträglichen Verlust vollständig erholen werde. Mein Leben ist nicht mehr das Gleiche, wird es nie wieder sein. Ein Teil von mir starb mit ihr in dieser Nacht zum 14. Juni 2003.

Bis heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht weinen muss, ich mir sage: es kann nicht wahr sein.

Besonders schwer ist es für mich, dass ich meine Tochter schon seit 10 Monaten, seit August 2002 nicht mehr gesehen habe und sie kurz vor ihrer Rückkehr nach Deutschland stand, zurück zu ihrer Familie.

Wir freuten uns alle schon so sehr, konnten es kaum erwarten sie endlich wieder in die Arme nehmen zu können, waren gespannt auf ihre Erzählungen.

Wir hatten schon einige Überraschungen vorbereitet, ein Einkaufsbummel (nur Mutter und Tochter) war geplant, mit ihren Schulfreunden wollte sie eine Woche nach ihrer Rückkehr eine Fahrt zur Ostsee unternehmen.

Alle freuten sich, sie endlich wieder zu sehen.

Und dann – 14 Tage vor ihrer Heimkehr – diese schreckliche Nachricht. Es war einfach Unfassbar. Das konnte nicht wahr sein.

Sie war zwar weit weg von uns, aber durch zahlreiche Telefonate, die wir führten, war sie uns doch nahe.

Wir wussten immer, wie sie sich fühlte, worüber sie sich Gedanken machte, wann sie Kummer hatte oder sich über irgend etwas besonders freute.

Zu wissen, dass sie jederzeit bei uns anrufen konnte – und sei es mitten in der Nacht – beruhigte mich, machte es für mich leichter die Zeit ihrer Abwesenheit zu überstehen.

Sie war ein wundervoller Mensch, eine bessere Tochter kann man sich gar nicht wünschen.

Sie war sehr kontaktfreudig, zu jedem freundlich, lebhaft, unternehmenslustig, klug, ehrgeizig und großzügig, hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, stellte hohe Ansprüche an sich selbst und an ihre Freunde, lachte gern, sang, tanzte und war aber auch sehr sensibel.

Sie hatte eine warme, einladende Persönlichkeit. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen.

Sie war bei allen sehr beliebt. Nicht nur in Deutschland – auch in Amerika.

Ihre Wahl zur „Prom-Prinzessin" zeigt das wohl ganz deutlich.

Sie liebte das Leben und wusste die Werte zu schätzen, die im Leben wichtig waren.

Für sie waren das einfache Dinge: die Familie, Freunde, Spaß am Leben zu haben, auch wenn man sich einmal nicht so wohl fühlt – das waren ihre Ziele.

Ich glaube das Wichtigste für sie war – jeden Moment des Lebens bewusst zu leben und zu genießen.

Sie war eine ausgezeichnete Zuhörerin. Juliane hatte diese beneidenswerte Fähigkeit, mich, ihre Familie, ihre Freunde zu trösten und uns das Gefühl zu geben, dass man sich einfach besser fühlt.

Sie fand immer Zeit für ihre Freunde, war immer für sie da, wenn diese ihre Hilfe brauchten.

Sie war eines der bezauberndsten Wesen, dem man je in seinem Leben begegnen wird. Ich bin sehr stolz, Juliane in meinem Leben als Tochter gehabt zu haben.

Ich vermisse sie so sehr.

Ich vermisse ihr Lächeln, ihre Umarmungen, ihr heiteres Gemüt, den Klang ihrer Stimme, die Gespräche mit ihr – einfach ihre Anwesenheit.

Ihr Leben hatte doch gerade erst begonnen, war voll von Hoffnungen.

Es war ihr nicht vergönnt, ein Leben als Erwachsener zu führen und sie durfte auch nicht all die Freuden genießen, die das Leben ihr noch zu bieten hätte.

Wir werden nie wissen, was aus ihr hätte werden können, nie erleben, wie sie erwachsen wird, einmal heiratet und eigene Kinder haben wird.

Ein Kind zu verlieren ist, als ob man einen Teil von sich selbst verliert.

 

Zu Eddie W.:

Ich denke, dass auch Du keine leichte Zeit durchzustehen hast - aber - Du bist am Leben und Juliane ist tot - durch Deine Schuld.

Kannst Du Dir vorstellen, Tag für Tag zu erwachen und zu wissen, dass dieser Albtraum niemals enden wird?

Kannst Du Dir regelmäßige Besuche zum Friedhof, zum Grab Deines Kindes für den Rest Deines Lebens vorstellen?

Ich hoffe für Dich, dass Du, wenn Du einmal Kinder haben solltest, niemals das durchmachen musst, was wir durchstehen müssen. Das eigene Kind zu Grabe zu tragen, ist das Schrecklichste, was einem je passieren kann – und das wünscht man wirklich Niemandem."